Der erste Arbeitstag in meinem Leben war der 2. Januar 1997. Nach drei erschöpfenden Stunden saß ich in der Mittagspause allein mit meiner Breze in einem Büro der PR-Agentur und nahm mir die Süddeutsche vom Tisch der Kollegin, nur um dort zu lesen, dass Townes Van Zandt gestorben war. Jetzt gab es nur noch Jerry Jeff Walker, den zweiten großen Texaner; zusammen bildeten sie das Yin und Yang meines Musiklebens: Townes war die dunkle Seite, das Sterben. Jerry Jeff war die leichte Seite, das Leben. Noch ein Held sollte mir nicht entgehen, also fing ich an zu sparen, lieh mir bei meinem Bruder 2.000 Mark und schaffte es so, 1999 zum 150-Jahre-Jubiläum von Luckenbach, Texas ebendorthin zu fliegen. Jerry Jeff spielte zur Feier des Tages in der alten Dance Hall und ich sang jeden Song mit, ermuntert dadurch, dass die paar hundert vor allem jungen Studenten mit ihren Bierflaschen in der Hand dasselbe taten. Vor der Zugabe sprang ich schnell rüber zu dem Münzfernsprecher am Post Office (dem anderen Gebäude im „Ort“) und rief meinen Freund Epbi in Deutschland an, der mir einst die erste Cassette mit Songs der beiden in die Hand gedrückt hatte und jetzt um 4.00 Uhr aus dem Bett ans Telefon geholt wurde. Ich hielt den Hörer in Richtung der offenen Bühne und er konnte sich bis zum Ende meiner Quarters L. A. Freeway oder was immer es für ein Klassiker war anhören. Geteiltes Glück ist doppeltes Glück, so war das mit der Freundschaft, und so ist das mit der Liebe, und so wird es immer sein mit dem Fansein.
Meine heiligen drei Könige: Chuck, Buddy, Jerry Lee. Dean, Frank,
Perry. Townes, Guy, Jerry Jeff. Franz, Katsche, Gerd, Sepp (ok, das sind
vier, aber da ist auch ein Kaiser dabei). Tilman, Sven, Nils. Der junge
Ambros, der mittlere Ambros und der späte Ambros. Kirk, Spock, Pille.
Die alten Weltreligionen schafften es nur bis zur Dreieinigkeit. Ein
leidenschaftlicher Schöpfer Brahma, ein klarer Erhalter Vishnu und ein
unwissender Zerstörer Shiva. Gottvater, Gottsohn und der Heilige
Geist. Trinität und Trimurti. Die Popmusik zählt auch bis zum Trio. Solo,
Duo, Trio. Aber erst vier ist eine Band. Pop ist die erste Religion, in der
es vier Götter für einen Himmel braucht.
Ich brauch keinen Coach, ich brauch einen Künstler, sagte neulich eine Freundin zu mir, denn ich brauch Inspiration, ich will Brüche, Fehler, Reibung. Die Berater machen dich gleich, sie ebnen dich ein. Die Künstler zeigen dir, wie es geht, Individuum zu sein, extravagant, suchend, experimentierend, gescheitert, missverstanden, erfolgreich, bewundert, geliebt, gefeiert, vergessen.
Jerry Jeff Walker war der Künstler, mit dem ich mich lange Jahre am meisten identifizieren konnte. Denn: Er sang mir aus der Seele. Da war dieser Ronald Clyde Crosby, ein Städter aus New York, der sich einfach seinen Traum erfüllte: Er gab sich einen neuen Namen, der nach Westernheld klang, nach Whiskey und ewiger Wanderschaft, packte seine Gitarre und erfand sich neu als texanischer Singer-Songwriter. Natürlich gab es texanische Musiker vor und nach ihm, aber für eine kurze Periode in den 70ern war Jerry Jeff Walker der Inbegriff dessen, was Texas Folk, Outlaw Country, Progressive Country, Cosmic Cowboy, Austin Scene, Armadillo Rock genannt wurde, mit einem unverwechselbaren Sound, den er später Cowjazz taufte, und mit Attributen wie gonzo, gypsy und scamp brandete. 10 seiner 11 Alben zwischen 1973 und 1981 erreichten die Charts. Er war der erfolgreichste Interpret seiner Musikrichtung dieser Zeit, Kokain und eigener Jet inklusive, weil er der erste war und der authentischste, der begabteste und der kommerziellste, der sexieste und der sensibelste, der trinkfreudigste und der großzügigste.
Für euch, die ihr begeistert seid von den Geschichten, die sich in der
Bohème von Schwabing und im Quartier Latin, in Haight-Ashbury und
Greenwich Village, in Soho und Kreuzberg abspielten, wenn ihr Worte
liebt und den Tanz, den Rausch und die Liebe, dann müsst ihr euch mit
Luckenbach, Texas beschäftigen.
Wim Wenders hat „Paris, Texas“ im Kino ein Denkmal errichtet und das
„Dallas“ der Ewings wurde zur TV-Ikone. Die Geburtsstunde der
alternativen Countrymusik schlägt jedoch in einem Zwei-Einwohner-
Kaff, gegründet 1849 von der deutschen Pfarrerstochter Minna Engle
und benannt nach ihrem Mann Albert Luckenbach. Waylon Jennings
brachte mit seinem gleichnamigen Lied das deutsche Dorf auf Nummer
Eins der amerikanischen Hitparade: „Let’s go to Luckenbach, Texas,
with Willie and Waylon and the boys / This successful life we’re livin’
got us feuding like the Hatfields and McCoys / Between Hank Williams
pain songs and Jerry Jeff’s train songs and Blue eyes cryin’ in the rain /
Out in Luckenbach, Texas ain’t nobody feelin’ no pain.“
1971 kauften der Poet Hondo Crouch und seine deutschstämmige Frau
Shatzie den Ort und machten die drei Holzhütten zum Mekka der
musikalischen Außenseiter und Späthippies. In einem alten Schuppen
wurde dem polierten Nashville-Schlager mit Marihuana und freier
Liebe zu Leibe gerückt. Unabhängig von den großen Plattenkonzernen
entstanden mit mobilen Aufnahmegeräten am Lagerfeuer so die ersten
selbstgefrickelten Home Recordings.
Der wahltexanische Liedermacher Jerry Jeff Walker aus New York
erfand hier eine Ausdrucksform, die sich zum Hitparaden-Country aus
Nashville ungefähr so verhielt wie die Biermösl Blasn zum
Musikantenstadl. Für den Laien klang das oberflächlich erst mal
ähnlich. Aber dann fiel auch dem Rockpublikum auf, dass Walkers
tiefsinnige Texte und die feinfühlige Steel-Guitar von Lloyd Maines
jeden Kitsch vermieden und das Genre neu belebten.
Jerry Jeff Walker hatte von Anfang an ein Händchen für große Songs und brillante Mitmusiker. Er coverte den großen Guy Clark viele Jahre, bevor dieser seine erste Platte aufnahm. Townes, Ray Wylie Hubbard, Lee Clayton, Rodney Crowell, Gary P. Nunn, Billy Jim Baker, Rusty Wier, Bob Livingston, Ian Tyson, Chris Wall, Keith Sykes, wer seine Plattencover studierte, konnte sich durch das Who‘s Who der Szene klicken, bevor es das Internet gab. Selbst abgenudeltsten Nummern von Dylan und Kristofferson, Oldies und Evergreens oder frühen Perlen vom noch unentdeckten Waits gewann er beeindruckende neue Facetten ab. Walker war ein beeindruckender Singer und Performer, ein Entertainer, der auf Platte, Bühne und im Fernsehen gleichermaßen überzeugte. Mit leisen Tönen, mit persönlichen Bekenntnissen, mit herzerweichenden Liebesliedern, mit unwiderstehlichen Mitgröhlnummern, mit energiegeladenen Rockern, mit waltzigem Country, mit feingesponnenem Folk, mit grandiosem Witz, mit launigen Geschichten, mit Lagerfeuerromantik, mit jazzigem Vibe und mit karibischem Flair.
Getrieben werden ist das Gegenteil von etwas in Bewegung setzen. Ich
habe in meinem Leben nichts erreicht. Keinen Samen gesät. Keinen
Baum gepflanzt. Keine Schule begründet. Kein Haus gebaut. Kein
Vermögen angesammelt. Kein Kind gezeugt. Ich war niemandem ein
Vorbild. Der kulturelle Fußabdruck meines Lebens geht voll in Ordnung:
„When I leave I‘m leavin‘ nothin‘ behind“, singt Jerry Jeff Walker in „Hill
Country Rain“, seinem definitivem Statement zum texanischen
Lebensgefühl. „I get a feelin‘, somethin‘ that I can’t explain, it’s like
dancin‘ naked in that high Hill Country Rain.“
Ein paar Scherbenhaufen habe ich aber schon hinterlassen. In Beziehungen, in Freundschaften, im künstlerischen Werk und im Job. Aber man wird ja klüger. Sie werden weniger. Und ich lauf nicht mehr barfuß über die scharfen Kanten. Die einen machen Yoga, andere gehen laufen oder ziehen sich auf‘s Land zurück. Für die Tage, an denen die Katastrophe hereinbricht, habe ich mir ein wirkungsvolles Programm zurechtgelegt. Hat noch immer funktioniert. Wenn es passiert, weiß ich genau, was ich zu tun habe. Ich gehe an meine Balkontür, schaue raus, höre „Hill Country Rain“ und lächle. In meinem Ratgeber „Überleben im Shitstorm“ habe ich das so formuliert:
„Einem befreundeten Schauspieler passiert es immer wieder, dass wie aus dem Nichts brutalste Angriffe auf ihn einprasseln. Initiiert von der Boulevardpresse, den zerstrittenen Fans der Serie oder von Neonazis, weil er türkische Wurzeln hat. Er hat schon die übelsten Lügen über sich lesen müssen und kann damit als besonders sensible Künstlernatur nur schwer umgehen. Seit seine Kinder älter sind, empfindet er die aufgebauschten oder frei erfundenen Stories als besonders belastend. Zwar hat er über sein Studio gute Medienanwälte, die ihm helfen. Aber erstmal ist jeder Angriff in seiner Dreistigkeit wieder ein Schock. Deshalb hat er damit begonnen, sich auf ein Lied zu konditionieren.
Wann immer es wieder losgeht und er die Bauchschmerzen kommen spürt, lässt er die Rolladen runter und spielt ein ganz bestimmtes Album seiner Lieblingssängerin. Das hört er sonst nie. Die CD liegt wie ein kleines Heiligtum an einem etwas versteckten Ehrenplatz. Die legt er dann ein und hört im Dunkeln das Album, das ihn an seine Zeit als Student erinnert, in der er mit dem Rucksack durch die Welt getrampt ist, unbeschwert und frei. Die Reise hat ihn ermutigt, nicht die vorgezeichnete Arztkarriere zu verfolgen, sondern sich auf das Abenteuer Schauspielerei einzulassen. Daran erinnert ihn die Musik, er singt die Lieder mit und weiß danach wieder, was ihm wirklich wichtig ist, und was nur dumme Begleitumstände sind.“
So viel zum Thema autobiografisches Schreiben. In die Falle tappen ja viele Interpreten. Wobei, eine wahre Geschichte muss noch sein: Im Muffathallencafe in München war einst ein Countryabend angekündigt. Ich ging mit Epbi hin. Keine Sau interessierte sich für die wunderbare Musik, alle saßen bei ihren Cappuccinos und quatschten mit ihrer Hoffnung des Abends. Da spielte der DJ „Sangria Wine“ von Jerry Jeff. Und ich tat, was mir bis heute als eine der mutigsten Taten meines weitgehend feigen Daseins in stolzer Erinnerung geblieben ist: Ich ging auf die nicht vorhandene Tanzfläche und tanzte, tanzte, tanzte. Und es gilt bis heute: Yeah I love that Sangria wine / Just like I love old friends of mine.
Jeder Künstler wird bei aller Vielfalt durch ein Werk definiert. Jerry Jeff Walker hat viele großartige Songs geschrieben und herausragende Alben aufgenommen, aber „sein“ Song für die Ewigkeit wird in jedem Musiklexikon der Welt für immer Mr. Bojangles bleiben. Von Nina Simone bis Robbie Williams wurde er gecovert, von der Nitty Gritty Dirt Band bis Neil Diamond.
Auf Ö3 schnitt ich ab 16 Uhr die Sendung „Evergreens“ auf Cassette
mit, hier begann der sanfte Übergang vom Easy Listening eines Roger
Whittaker und Dean Martin zum bodenständigen Country eines Roger
Miller und Willie Nelson, dem World-Blues eines Harry Belafonte und
einer Nina Simone, dem Folkrock von America und den Eagles. Von den
Eagles war es nicht weit zu Lynyrd Skynyrd, von Belafonte nicht weit zu
Lightnin Hopkins, von Dean Martin nicht weit zu Kris Kristofferson, von
Roger Miller nicht weit zu Randy Erwin. Einen der großen Klassiker im
Repertoire von Sammy Davis Jr. und Harry Belafonte schrieb Jerry Jeff
Walker: „Mr. Bojangles“, das auch Dylan in unmittelbarer
Nachbarschaft zu „Ballad Of Ira Hayes“ als eine seiner raren
Coverversionen schon Anfang der 70er auf Platte veröffentlichte und
das es als „Rudi Kowalski“ auch in einer hörbaren deutschen Version
von Evelyn Künneke und einer nicht mehr so gut hörbaren von Michael
Heltau gibt: „In einem Bumslokal saß er an meinem Tisch“, und auf
Österreichisch von Peter Ratzenbeck: „Kumm oida Sandla / Fraunz
Bodschengels“.
So ein Mann hat doch ausgesorgt? Oh nein. In seiner Autobiografie schildert Walker sehr offen, wie die Drogen, das Touren, die Entourage, der ganze üppige Lebensstil des Rockstars das Einkommen sofort wieder auffraßen. Und so besann er sich mit seiner Frau Susan in den schwierigen 80ern auf ein komplett neues Geschäftsmodell: Ohne Major Label produzierte er seine Musik selbst und spielte, wo ohne große Overheadkosten ein Gewinn übrigblieb. Bei einem der traurigsten Ereignisse der Musikgeschichte, dem vernichtenden Brand des Universal Studios 2008, wurden zudem zahlreiche auch seiner Originalbänder zerstört. Und so ist auch vom Werk eines stilprägenden Superstars bei weitem nicht so viel zum Streamen verfügbar wie es die allgegenwärtige Digitalisierung uns immer glauben machen will. Im Übrigen gilt dasselbe für die hörenswerten Scheiben seines Sohnes Django Walker.
Die Wurzeln der Popmusik sind heute nur noch archäologisch zu
erschließen. Musik und Interpreten der Mitte des letzten Jahrhunderts
sind heute bestenfalls ein gut dokumentiertes geschichtliches
Phänomen, wie Weltkriege und John F. Kennedy. Manche, die dabei
waren, leben noch, manches wird immer noch reproduziert oder ist
zumindest museal oder in Archiven zugänglich. Vieles ist bereits
verschollen oder nur noch Insidern bekannt oder zugänglich. Dazu
gehört die LP „Reunion“ von Jerry Jeff Walker. Sie gehört zu den
zahlreichen LPs, die nie wiederveröffentlicht, nie auf CD aufgelegt, nie
bei iTunes zum Download angeboten wurden. Man hat die LP oder
eben nicht.
„Reunion“ war 1981 endlich wieder ein Walker-Album, das auf
selbstgeschriebenen Songs basierte. Es schloss damit nach einer Reihe
von Alben mit Coverversionen an seine initialen drei Texas-Alben
zwischen 1972 und 1974 an, die ebenfalls stark von eigenen Songs
geprägt waren. Es gab auf Reunion nur drei Coverversionen – und der
Track „She Left Me Holdin“ war co-written mit dem Songwriter Milton
Carroll, den Zeitzeugen als Urgestein der Austin-Szene beschrieben
haben, bevor er zum Christentum konvertierte. Passt: Mit Carroll hatte
Walker bereits „Salvation Army Band“ vom Album „Collectibles“
verfasst.
Auf der Website von Will Callery (auch er hat einige Songs geschrieben,
die Jerry Jeff Walker gecovert hat) gibt es eine wunderbare Geschichte
über Milton Carroll. Callery erzählt, wie Carroll ihn 1982 nach einem
Konzert vom Heroin befreit und zu Gott bekehrt hat. Sachen gibt’s. Und
dann war Milton auch dabei, als Steve Earle das erste Mal Townes traf,
wie Earle in einem Interview zum Besten gab. Die Welt ist klein. 1979
war Milton mit B. W. Stephenson und Peter Rowan Juror beim Kerrville
Folk Festival. Es war das Jahr, als Tish Hinojosa gewann, Geschmack hat
er also.
Ein weinroter Rahmen. Davon umspielt: ein mittelalter hagerer Mann,
grauschwarzer Vollbart, Säufernase, unter einem weißbeigen Fellhut,
in einem blau-weißen Blumenmusterhemd mit weiß abgesetzten
Nähten und zwei Arten von Knöpfen. An seiner Brust ein müdes Kind
im knallgelben Anorak. Beide blicken in die Kamera.
Auf der Rückseite des Covers derselbe Mann, derselbe Hut, dasselbe
Hemd, jetzt aufgeknöpft, er trägt Jeans, die in Cowboyboots in der
Farbe des Hutes stecken, was seine Gestalt wie gestaucht wirken lässt.
Er steht im langen Abendschatten auf einem Stein inmitten eines
Baches und lacht offensichtlich jemanden links von ihm außerhalb des
Bildes an, die Kamera fängt das von rechts oben ein.
Wer fotografiert so ein Cover? Der Mann, verraten die Liner Notes,
heißt Jim McGuire, und wer auf seiner Website nachschaut, wird dort
einen der profiliertesten Fotografen der Country Music entdecken. Ab
800 Dollar gibt‘s dort auch rare Abzüge zu kaufen. Wer eine
Countryrock-LP-Sammlung besitzt, der besitzt auch eine
Kunstsammlung von Jim McGuire. Und für Fans von sehr, sehr
obskuren Beatles-Trivia findet sich auf der Website auch ein Video von
Ringo. Drummer auf „Reunion“ war allerdings Roger Hawkins und
produziert wurde die LP von Barry Beckett.
Die LP erschien beim kleinen Label SouthCoast Records in Austin,
einem kurzlebigen Imprint von MCA unter der Leitung von Walkers
Haus-Produzenten Michael Brovsky. Es sind die beiden auf diesem
Label veröffentlichten Scheiben Walkers, von denen es immer noch
keine digitalen Reissues gibt.
Rechts unten auf der Rückseite des Covers ist auf meinem Exemplar
eingedruckt: „Distribuzione Dischi Ricordi S.P.A.“ – das war also der
Vertrieb, der mein europäisches Exemplar herstellte. Das Label auf
dem Vinyl ist ebenfalls in italienischer Sprache. Mein Exemplar von
„Reunion“ habe ich demnach Ende der 80er in Italien gekauft, aus einer
Billiggrabbelkiste mit LPs ab 1.000 Lire in einem damals legendären
Plattenladen in Rimini. Bei der Google-Recherche zum Album stieß ich
auf die Website von Marco Giunco. Marco hat dort seine komplette
Musiksammlung von mehreren tausend Tonträgern aufgelistet, Cover
gescannt und alle Besetzungen sowie Songtexte abgetippt. Da ich sonst
keine Informationen zu dem Plattenladen in Rimini fand, habe ich ihm
kurzerhand eine Email geschickt. Er hat prompt geantwortet und mit
seiner Hilfe weiß ich heute, dass es sich um Dimar Dischi in Rimini
handelte.
Richtig verrückt ist, dass dieser Laden, an den ich in der Woche, in der
ich das schrieb, das erste Mal seit 15 Jahren gedacht habe, genau in
dieser Woche für immer geschlossen wurde. Zum Abschied hat ein Fan
im Juli noch einmal eine Videoführung durch diese legendäre
Schallplattenpilgerstätte gedreht und auf YouTube veröffentlicht, den
ich allen Nostalgikern ans Herz lege.
Im erfolgreichsten Kinofilm von 2014, „American Sniper“, erzählt
Regisseur Clint Eastwood die Geschichte des texanischen
Scharfschützen Chris Kyle, der nach über 160 Tötungen selbst
erschossen wurde. Das Schicksal, in Texas niedergestreckt zu werden,
teilt er mit nicht wenigen, allen voran natürlich John F. Kennedy, der in
Dallas von Lee Harvey Oswald erschossen wurde, der wiederum von
Jack Ruby erschossen wurde, der vier Jahre später – an Lungenkrebs
starb. In einer Szene in „American Sniper“ hängt hinter Kyle ein Poster
von einem Konzert, das Jerry Jeff Walker in den 70ern, vielleicht auch
80ern, im Mishawaka Amphitheater gab. Das Mish hat einen
Gründungsmythos: „On a spring afternoon in 1916, musician and
motorcycle-traveling adventurer Walter S. Thompson was riding
through the sparsely inhabited Poudre Canyon when he heard a song
from the land too clear and powerful to ignore. The majestic mountain
vistas and idyllic riverbank setting sang the notes of a sacred place and
Thompson decided then and there to fulfill his dance hall dreams.“
Walter, ich habe das recherchiert, ist nicht mit Hunter S. Thompson
verwandt. In seiner Autobiographie „Gypsy Songman“ schreibt Jerry
Jeff: „Speaking of stoned, in honor of old friend Hunter S. Thompson, I
nicknamed my band Lost Gonzos. I decided that what the band and I
were doing musically, he was doing in his books. That night at his house
we discussed Gonzo-ism: ‘Taking an unknown thing to an unknown
place for an unknown purpose.'”
Naja, und dann habe ich halt doch auch selber zwei Haiku geschrieben,
zu „A Man Must Carry On“, dem Jerry Jeff Walker Album von 1977. Sie
gehören zusammen und tragen den Doppeltitel (ist ja auch ein
Doppelalbum) hügelplatzregen/ luckenbachmond:
hügelplatzregen
nackte tatsachen springen vor
dem inneren auge
luckenbachmond
amber und sichel zur
tag und nacht gleiche
Ich wurde 1968 geboren. Der Witz, ein echter 68er zu sein, kam auf den Bühnen immer gut an.
Es ist aber auch das Jahr, auf das zumindest die
Fangemeinde der texanischen Songwriterszene gern
zurückblickt. 1968 wurde der Grundstein gelegt für das,
was bis heute in Austin, der selbsternannten „Music
Capital Of The World“, oder ein paar Kilometer weiter
im Kaff Luckenbach als Pilgerstätte derer, die sich
„Back To The Basics Of Love“ sehnen, zelebriert wird.
Denn sowohl Townes Van Zandt als auch Jerry Jeff
Walker veröffentlichen 1968 ihre Debütalben. Das erste
Mal hören Menschen die Geschichten von Mr.
Bojangles und der Caroline aus dem Tecumseh Valley.
Auf einem Livealbum spielt Jerry Jeff Walker den Klassiker „Good Night
Ladies“ aus dem Jahr 1867, geschrieben von Edwin Pearce Christy,
einem Blackface Minstrel Sänger, also einem Weißen, der sich das
Gesicht schwärzt, um einen Farbigen zu imitieren. Und gut 100 Jahre
später tanzte ich zu einer deutschen Coverversion dieses Lieds durch
den Ampfinger Kinderfasching: dem von Ernst Neger eingedeutschten
„Rucki Zucki“.
„I guess I’ve always been the one they said was / Too tall, too late, too
early / Yeah, he’s the one / Who ought to be in the circus / You’re
having too much fun“, singt Jerry Jeff Walker. Willkommen im 21.
Jahrhundert: Das Leben meiner Freundinnen ist gefüllt mit Geschichten
von Vergewaltigungen, Missbrauch, Schlägen, Abtreibungen,
Abgängen, Drogen, Depressionen, Suizidversuchen. Eine Claudia hat’s
durchgezogen, die Weltreise, der Typ in Australien, der Stoff in
Kalifornien, dann die Schizophrenieschübe, mit dem Zirkus
rumgezogen, dann aufgehängt, eine andere Claudia hat es auf der
Autobahn erwischt, das Herz, noch an den Standstreifen gefahren und
mit den Händen am Lenkrad gestorben, und die beiden Kinder riefen
Mama, Mama, und versuchten verzweifelt, eines der vorüberrasenden
Autos anzuhalten, zwei Claudias, zwei Countrysongs, wie soll ich da
nicht driften, wohin es geht, und es treiben, mit wem es geht. „I never
lived my life through other people’s eyes / I’m still riding through a
storm twice my size / Always been a drifter / I guess I always will /
Drifting off to see a sunset / On the other side of the hill / And I was
contrary to ordinary / Even as a child / Fast freights made me wonder /
Full moons still drive me wild / And stories do come true / If you live
your life in episodes / With one eye on a lady / And one eye on that
open road.“
Dieses Lied, „Contrary To Ordinary“, ist eines der schönsten von Jerry
Jeff Walker, und Willi Ehms hat eine bayrische Coverversion davon
gemacht. Geschrieben hat es der texanische Clown Billy Jim Baker, ein
echter Zirkusmann, Mitglied der International Clown Hall Of Fame. Auf
dem zugehörigen Albumcover sieht man Walker in voller
Clownsmontur, das Foto wurde gemacht, nachdem Baker ihn und Bud
Shrake zu einem Auftritt beim Ringling Bros. Barnum & Bailey Circus
überredet hatte.
für gewöhnlich ungewöhnlich
i hob nia so glebt wias ratgeba valanga
nia hods weiße flockn gschneit, da warn imma nua lawina
i war a pendler, und ‘s schlogt scho wieda aus
vom feldweg auf d‘ autobahn, üba zuabringa und spanga
und oana wia i, agrat, find raus
dass des rumdandln ois koan sinn ned hod
i schlacht doch koane kissn mehr
auf am betttuach volla fleckn
wennst oida werst, werst ruhiga, oda a ned
i war für gewöhnlich ungewöhnlich, scho ois a kind
vawundbar mit wortn, und bewaffnet
für regeln taub und blind
lebst vom lebn de folgen, geht de gschicht leicht auf
oa kapitel zu de stadtfraun obe, as letzte de landstrass nauf
wenns mi dahaut, brauch i koa mess
zwoa handvoll oide freind stell i ma vor, guate boxen und koan stress
sparts eich de anekdoten, vateilts liaba mei erbe
a paar gsellnstück, a paar namen, a paar scherbn
i war für gewöhnlich ungewöhnlich, scho ois a kind
vawundbar mit wortn, und bewaffnet
für regeln taub und blind
lebst vom lebn de folgen, geht de gschicht leicht auf
oa kapitel zu de yogamadl obe, as letzte de landstrass nauf
Vermutlich hätte ich mit meinen
Übersetzungen von Townes Songs auch regelmäßig den Grammy
verdient. Wie jeder, der auch in Bayern die Erinnerung an Van Zandt
am Leben erhält.
So wie Markus Rill, der kürzlich mit Annika Fehling eine wunderbare
Version von Townes‘ „If I Needed You“ eingespielt hat. Ich habe
Markus kürzlich bei einem Konzert von No Snakes In Heaven getroffen,
deren Sängerin Micha Voigt in Hawaii geheiratet hat. Auf meiner
Facebook-Seite meldete sich auf einen Beitrag, bei dem ich Townes aus
„Pancho And Lefty“ zitierte, mein alter Freund Jacob, der in Hawaii
aufwuchs und mit dem mich eine Leidenschaft für hawaiianische Slack
Key Musik verbindet. Aktueller Grammy Gewinner in der Kategorie
Hawaiian Music Album ist „Masters Of Hawaiian Slack Key Guitar – Vol
2“. Slack Key Interpreten wie Dennis Kamakahi, Cyril und Gaby Pahinui
entdeckte ich Anfang der Neunziger. Ich stieß auf sie durch einen
Newsgroup-Beitrag (so hieß Bloggen damals), in dem ich der
weltweiten Webcommunity die Frage stellte, wer denn bitte der Big
Walter Jenkins sei, der in den Liner Notes des Townes Albums „Live At
The Old Quarter“ in einer Reihe mit Jerry Jeff Walker, Guy Clark und
Lightnin Hopkins genannt wird.
Eine freundliche Dame namens Ranger Rita, ihres Zeichens DJ beim US-
Radiosender KNON, meldete sich, versprach zu recherchieren, brachte
aber nichts raus. Big Walter blieb ein Mysterium, bis Eric Taylor eines
whiskeyseligen Abends bei mir auf der Couch ein paar Geschichten
erzählte. Unerwähnt ließ er, was der einzige Suchtreffer zu Big Walter
Jenkins bei Google heute ausspuckt. In einer Ausgabe des „The
Rotarian“ vom Mai 1955 freuen sich die Rotarier darauf, dass „Big
Walter Jenkins, of Texas, the old master of community song“ bei ihrer
50-Jahr-Feier in Chicago mit ihnen „the old Rotary favorites“ singen
wird. Da stelle ich mir jetzt vor, wie der Big Walter im Old Quarter eine
Rotarierhymne anstimmt, ein besoffener Townes einfällt, ein noch
jünglingshafter Steve dazu eine Oktave höher, Wrecks Bell und Blaze
Foley eine Oktave drunter, und alle glücklich sind.
Ranger Rita aber, die fand das irgendwie süß, dass ein Deutscher sich
für texanische Songwriter interessierte, und war sich sicher, dass wer
ein Herz für Jerry Jeff habe, sich auch für die Pahinuis interessieren
müsse. Und heute stehen auf der Grammy Website Steve Earle mit
„Townes“ und „Masters Of Hawaiian Slack Key“ direkt untereinander.
Und wieder schließt sich ein Kreis. „There isn’t much I have learned /
through all my foolish years / except that life keeps running in cycles /
first there’s laughter, then there’s tears“ (Gayle Caldwell, by way of Rod
McKuen). Rita ist auch heute noch aktiv, sie schreibt Bücher und auf
ihrer Website finden sich allerhand obskure Projekte, mit denen man
sich gut identifizieren kann.
Am besten bleibt natürlich: Townes selbst hören.
Die meisten Zitate oben stammen aus meinem Buch „Ich bin der neue Hilmar und trauriger als Townes“ von 2016. Der bayrische Songtext ist publiziert in meinem Buch „Aba i bleib dro. Das neue Willi Ehms Liederbuch“ (2019). 2019 veröffentlichte ich zudem die Musikessays „Hankfurt“, aus dem der kurze Text zu 1968 entnommen ist. Darin findet sich nach der folgenden Einleitung auch die Adaption von Jerry Jeff Walkers Liner Notes für Guy Clarks Debutalbum. Der Pfarrer predigt nicht zweimal ist übrigens eine Reminiszenz an einen Lieblingssatz meines Freunds Epbi, der Kreis schließt sich, der Rest sind fast durchweg Anspielungen auf die Titel und Storys und Helden der Songs in meinem Buch „Smartin Winner. Nobody Wants To Hear The Truth“ (2019).
Die folgenden Texte entstanden im Rahmen eines größer
angelegten Kunstprojektes. Das Konzept: Ich beschäftigte mich
intensiv mit den legendären Liner Notes für drei der größten Alben
der Countrymusikgeschichte, geschrieben für:
Townes Van Zandt, Live At The Old Quarter,
von Earl Willis.
Guy Clark, Old No. 1,
von Jerry Jeff Walker.
Willie Nelson, Waylon Jennings, Tompall Glaser&
Jessi Colter, Wanted! The Outlaws,
von Chet Flippo.
Diese Originale verwendete ich als Inspiration für freie
Adaptionen, die als Liner Notes für fiktive Alben mehrerer
Personas dienen könnten, unter denen ich arbeite.
Smartin Winner:
Die neue Nr. 1
4. Juli 2017
An meinen Freund, im Gefühlschaos
Wir haben ja schon einiges erspürt
aber Smartin Winners
Debut
ahhhh
wenn ich an die Jungen denke
die immer zu früh kommen
Smartin hat sich Zeit gelassen
der Handlungsreisende
staunt
quietschende Zugtüren
Terroranschläge mit LKWs
Schnorcheln in den Malediven
Star Trek Zeitreisen
mit Bären kämpfende Lachse
Krähenfüße seiner Erinnerung
nein, der Andersgraben seiner Erfahrung
er schließt die Augen
und all die Liebe
vergeht
von neuem
alles im grünen Groove Frankfurts
im pinken Beat Bayerns
wuchernde Geschichten zu
Texas Music
schöne, tätowierte Frauen
türkis & schlamm
wie Inn und Main
im Frühling
verschmelzen in
blutigem Schnee
das ist nicht Smartins Erstling
oder Letztling
der alte Tränensack
wartete ab
bis er wusste
warum er weinte
jetzt drückt er dir ein Lächeln rein
das Feld ist rund
ein Loch in der Mitte
(Brilli am Tonarm)
(aber nicht wortarm)
das Album hat Dauer
wir, ich zumindest, haben uns darauf gefreut
und dann fragt Smartin mich
ob ich ihm eine Entschuldigung schreibe
für seine Unterschlupflieder
(als wüsste ich was das ist)
aber eh klar
Der Pfarrer predigt nicht zweimal.
Jenny Jane Facker
Ich war rund zehn mal in Texas. Das erklärt sich mittlerweile vielleicht. Und zweimal in Belize. Und der Grund auch dafür ist Jerry Jeff Walker. Als mich meine damalige Freundin, die kalte Sophie, für eine Reise nach Guatemala begeistern wollte, entdeckte ich, dass das direkt neben dem winzigen Land in der Karibik liegt, in dem Jerry Jeff jedes Jahr eine große Party mit seinen Fans feiert. Die habe ich zwar verpasst, aber so kam ich auch mal nach Mittelamerika und wiederholte den Besuch später sogar nochmal. Denn Künstler inspirieren uns. Sie gehen Wege vor uns und wir folgen ihnen.
Erst vor ein paar Wochen erstand ich online einen Druck aus einer limitierten Auflage. Ein Digitalkünstler wandelt die Melodien von Liedern in Wellenmotive. Mein Motiv: Mr. Bojangles. Kitsch, signiert von Jerry Jeff Walker persönlich. Phil Collins geht grad mit 680 Euro. Meins war billiger. Jetzt wird es im Wert steigen. Mit 78 Jahren ist Jerry Jeff Walker am 23. Oktober 2020 gestorben. Ich habe auf dem Spaziergang mit dem Hund kurz überlegt, ob ich heute kündigen sollte. Dann wäre Townes‘ Todestag mein erster und Jerry Jeffs Todestag mein letzter Arbeitstag gewesen. Aber Jerry Jeff war ja das Leben. Und so leb ich halt weiter, arbeite weiter, schreibe weiter, liebe weiter.
Ich habe heute viele Stunden nur seine Platten gehört. Darunter auch die wunderschöne Version, die er von Townes Van Zandt’s “I’ll be here in the morning” aufgenommen hat sowie ihr Duett “Blue Wind Blew”. Seine Musik macht mir gute Laune. Seine Musik macht mich glücklich. Es ist also möglich, glücklich zu sein. Wir brauchen Künstler, damit sie uns inspirieren. Eine andere Welt ist möglich.
Die tollsten Frauen, die ich kenne, haben mindestens ein Lieblingslied von Jerry Jeff. Ihr könnt euch auch eines aussuchen. Ich hab eine Playlist mit den 60 besten Songs zusammengestellt: Spotify Playlist: 60 Best Jerry Jeff Walker Songs Im Ernstfall reicht auch wirklich nur ein Lied. Aber nein, nicht Bojangles. Das ist das Schöne am Individualismus. Wikipedia und Spotify und Robbie haben nicht immer Recht.
Heute ist der 24. Oktober 2020. Gestern ging wieder einmal die Welt unter. Ich stehe in Berlin im Regen an meiner Balkontür und tanze, wieder einmal, nackt, lovin is my will to live…
Martin Wimmer
Sometimes I just wake up hummin’
Feelin’ like this world is right
Want to jump right up and take a walk outside
And take in the morning light
Feel the music running through me
Makes me want to dance
Clap my hands and dance
Sometimes it just takes a lady
To smile and make my day complete
When she’s touching me
I feel free and easy to be me
Lucky to be alive
Feelin’ alright
Take a walk outside, feeling alright
People they tell me now
You’re living too fast
Slow down now boy
Take it easy
Let some of life pass
But I don’t know no other way
Got to live it day to day
And if I die before my time
When I leave I’m leaving nothing behind
Oh no, I‘m tasting every single grape on the vine
Cause I got a feeling
Something that I can’t explain
It’s like dancing naked
In that high Hill Country rain
I ain’t worried ’bout tomorrow, no
I’ll get by best I can
Lovin’ is my will to live
It makes me laugh
Want to sing and dance
Clap your hands, take a chance
Come on and dance
I got a feeling
Something that I can’t explain
It’s like dancing naked
In that high Hill Country rain